Euer Majestät, Ungnade und meine Kerkerhaft sind so ungewohnte Dinge für mich, dass ich weder weiß, was ich schreiben noch was ich zu meiner Entschuldigung vorbringen soll. Da Ihr nun in der Absicht, mich zu einem Geständnis zu bewegen, in welchem Falle Ihr mir Eure Huld wieder zuwenden wollt, jemand zu mir geschickt habt, von dem Ihr wißt, daß er von je mein erklärter Feind gewesen ist, so erkannte ich sofort nach Empfang der Botschaft Eure Willensmeinung. Und da ich, wie Ihr sagt, durch ein Geständnis der Wahrheit meine Freiheit wiedererlangen kann, so werde ich Eurem Befehl mit aller pflichtmäßigen Dienstwilligkeit nachkommen.

Glauben aber Euer Majestät nicht, daß Euer armes Weib je dahin gebracht werden könne, einen Fehltritt einzugestehen, wo mir nicht einmal ein Gedanke daran gekommen ist. Und um die Wahrheit zu sprechen, kein Fürst hat je ein in jeder Beziehung treueres und liebevolleres Weib besessen, als Ihr es in Anne Boleyn gefunden habt. Und ich hätte mit meinem Namen und meiner Stellung auch sehr wohl zufrieden sein können, wenn es Gott und Euer Majestät Gutdünken beliebt hätte. Niemals vergaß ich mich während meiner Erhebung zur Königin so weit, daß ich nicht stets an einen solchen Glückswechsel, wie er jetzt eingetreten ist, gedacht hätte. Denn da der Grund meiner Bevorzugung nur auf Euer Majestät vorübergehender Neigung beruhte, so wußte ich, daß die leichteste Veränderung hinreichen würde, diese Neigung auf irgendeinen anderen Gegenstand zu lenken. Ihr habt mich aus einem niederen Stande zu Eurer Königin und Gemahlin erkoren, weit über mein Wünschen und Begehren hinaus. Wenn Ihr mich daher einer solchen Ehre für würdig erachtet, so flehe ich Euer Majestät an, laßt nicht eine flüchtige Neigung oder einen schlechten Rat meiner Feinde mir Eure fürstliche Huld entziehen und laßt nicht zu, daß ein Fleck, ein so schmachvoller Fleck auf die Ehre Eurer so tugendhaften Gattin und der kleinen Prinzessin, Eurer Tochter, fällt. Stellt eine Untersuchung an, gütiger König, aber eine gesetzmäßige und laßt nicht meine geschworenen feinde als Ankläger und Richter über mich das Urteil sprechen. Ja, stellt eine öffentliche Untersuchung an (meine Wahrhaftigkeit braucht keine öffentliche Beschämung zu fürchten): dann werdet Ihr entweder meine Unschuld an den Tag gelegt, Euren Verdacht und Euer Gewissen beruhigt, die Schändlichkeit und Verleumdungssucht der Welt zuschaden gemacht oder meine Schuld klar und offen bewiesen sehen. Dann wird Euer Majestät, was Gott oder Ihr auch über mich beschließen mögt, frei von jedem offenen Tadel dastehen, und wenn meine Verfehlung auf diese Weise gesetzmäßig bewiesen ist, so steht es Euer Majestät sowohl vor Gott wie vor den Menschen frei, nicht nur über mich als eine ungetreue Gattin eine gerechte Strafe zu verhängen, sondern auch Eurer Neigung zu folgen, die sich bereits endgültig auf eine Dame gelenkt hat, um derentwillen ich mich in meiner jetzigen Lage befinde und deren Namen ich Euer Majestät seit geraumer Zeit hätte nennen können, da ich sehr genau weiß, nach welcher Seite sich mein Argwohn zu richten hat. Habt Ihr aber schon über mich beschlossen, und zwar daß nicht nur mein Tod, sondern auch eine schmachvolle Verleumdung Euch den Genuß Eurer ersehnten Glückseligkeit bringen solle, dann bitte ich zu Gott, er möge Euch Eure große Sünde und ebenso meinen Feinden, den Werkzeugen dazu verzeihen und wegen Eures unköniglichen und grausamen Verfahrens gegen mich nicht allzu scharf mit Euch ins Gericht gehen an jenem allgemeinen Gerichtstage, an dem Ihr und ich erscheinen müßt und an dem meine Unschuld, was auch die Welt von mir denken möge, unzweifelhaft an den Tag kommen und klar wie die Sonne bewiesen werden wird. Meine letzte und einzige Bitte soll die sein, daß ich allein die Last von Eurer Majestät Ungnade trage und daß die unschuldigen Seelen jener armen Herren, die sich wie ich höre, meinetwegen ebenfalls in enger Haft befinden, davon verschont bleiben. Wenn ich je vor Euren Augen Gnade gefunden habe, wenn je der Name Anne Boleyn Euren Ohren angenehm klang, dann erfüllt diese meine Bitte. Und so will ich aufhören, Euer Majestät länger lästig zu fallen, will vielmehr meine innigsten Gebete zur heiligen Dreieinigkeit emporsenden, sie möge Euer Majestät ihren mächtigen Schutz angedeihen lassen und Euch in all Euren Unternehmungen beistehen. – Aus meinem jammervollen Kerker im Tower, den 6. Mai. Eure gehorsamste und allezeit getreue Gattin.

 

Anne Boleyn an Heinrich VIII | Im Tower of London 1536